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Stefan Hermes

Zur völkerkundlichen Anthropologie des Sturm und Drang

Gewöhnlich wird die nur dem ersten Anschein nach erschöpfend erforschte Epoche des Sturm und Drang als ein ,rein deutsches‘ Phänomen konzeptualisiert. Dafür mag es nachvollziehbare Gründe geben, doch hat dies zu einer durchaus nicht unproblematischen Ausblendung der enormen Bedeutung geführt, die Aspekte kultureller Differenz für Autoren wie Goethe, Lenz, Klinger, Wagner und Schiller besaßen. Angesichts dessen sucht das Projekt ein neues, die bislang üblichen Sichtweisen erweiterndes Verständnis des Sturm und Drang zu entwickeln.

Dies soll zum einen durch detaillierte Relektüren jener Texte gelingen, die gemeinhin zu den wichtigsten Werken der Epoche gezählt werden; zum anderen sind literarische Zeugnisse in den Blick zu nehmen, die von der bisherigen Forschung fast vollständig übergangen worden sind. In beiden Fällen ist zunächst – unter Hinzuziehung zeitgenössischer Reiseberichte und völkerkundlich-anthropologischer Abhandlungen – danach zu fragen, inwiefern Kulturunterschiede auf der Inhaltsebene thematisiert werden und in welche Alteritätsdiskurse des ausgehenden 18. Jahrhunderts sich die Stürmer und Dränger damit einschreiben: Von besonderer Relevanz sind hier 1. die Debatte um die vermeintlichen Eigenheiten der europäischen ,Nationalcharaktere‘, 2. die Diskussion um ethnisch und/oder religiös definierte Minderheiten wie ,Zigeuner‘ und Juden sowie 3. die Beschäftigung mit dem außereuropäischen, ,exotischen‘ Fremden im Kontext des ,zweiten Entdeckungszeitalters‘. In einem weiteren Schritt gilt es zu zeigen, in welcher Form die Werke der Stürmer und Dränger Kulturdifferenzen auch auf formaler Ebene produktiv werden lassen, indem sie auf ästhetische Verfahren und Konventionen rekurrieren, die außerhalb der deutschsprachigen Literatur entstanden sind.

In methodischer Hinsicht schließt das Projekt an die Forschungsrichtung der Literarischen Anthropologie an, wie sie sich seit den 1980er Jahren etabliert hat, doch wird zugleich für deren merkliche Erweiterung plädiert. So soll deutlich werden, wie lohnend es sein kann, sich nicht länger auf die Untersuchung poetischer und wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit dem ,ganzen Menschen‘ zu kaprizieren, sondern auch dem völkerkundlichen Zweig der Aufklärungsanthropologie die ihm gebührende Aufmerksamkeit zu widmen. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, ergänzend auf Elemente der Postcolonial Studies zurückzugreifen, darunter Analysebegriffe wie ,Hybridität‘ und ,Mimikry‘ – Begriffe also, die schon vor geraumer Zeit Eingang in eine zusehends interkulturell orientierte Germanistik gefunden haben, aber kaum je mit literarisch-anthropologischen Zugangsweisen kombiniert worden sind. Der Frage, inwieweit eine solche Kombination innovative Forschungsperspektiven zu eröffnen vermag, soll das Projekt zusätzlich zu seiner literaturhistorischen Zielsetzung nachgehen.

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