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                                 Arbitrium 2018; 36(3): 371–374




Mario Zanucchi, Transfer und Modifikation. Die französischen Symbolisten in der
deutschsprachigen Lyrik der Moderne (1890–1923). (Spectrum Literaturwissen-
schaft 52) De Gruyter, Berlin – Boston 2016. 822 S., € 129,95.

Besprochen von Jeanne Wagner: Université de Genève, Programme de littérature comparée,
Département de langue et de littérature allemandes, Faculté des lettres / UNI-Bastions, 5, rue
De-Candolle, CH-1211 Genève 4, E-Mail: jeanne.wagner@unige.ch


https://doi.org/10.1515/arb-2018-0014


Der literaturhistorische Begriff des Symbolismus, der zunächst aus einer national-
literarischen Perspektive in der Romanistik untersucht wurde, hat sich seit Anna
Balakian1 und Paul Hoffmann2 auch als wichtiger komparatistischer Terminus
profiliert. Auf eine besonders überzeugende Weise trägt jetzt die umfangreiche
Studie von Mario Zanucchi, der die Rezeption des französischen Symbolismus in
der deutschsprachigen Lyrik von 1890 bis 1923 erforscht, zur komparatistischen
Geschichte des Symbolismus und der deutsch-französischen Literaturbeziehun-
gen in der Moderne bei.3 Seine Monographie befasst sich nicht nur rezeptions-
ästhetisch mit dem Transfer des französischen Symbolismus in die deutsche



1 Anna Balakian, The Symbolist Movement in the Literature of European Languages. Budapest
1982.
2 Paul Hoffmann, Symbolismus. München 1987.
3 Mit seiner Studie knüpft Zanucchi auch an ältere Arbeiten an: Enid Lowry Duthie, L’influence
du symbolisme dans le renouveau poétique de l’Allemagne. Les ,Blätter für die Kunst‘ de 1892 à
1900. Paris 1933, und Manfred Gsteiger, Französische Symbolisten in der deutschen Literatur der
Jahrhundertwende (1869–1914). Bern 1971.




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moderne Lyrik, sondern auch mit dem komplementären Phänomen der produkti-
onsästhetischen „Aneignung der symbolistischen Modelle“ (S. 3) und deren Mo-
difikationen durch die deutschsprachige Lyrik. Die poetische Aneignung verbin-
det Zanucchi mit drei Rezeptionsmodi, dem imitativen, transformativen und
transgressiven, wobei er an die Intertextualitätstheorie anknüpft. So werden
literaturhistorische Filiationen zwischen dem französischen Symbolismus und
den literarischen Stilrichtungen der deutschen modernen Lyrik deutlich. Diese
literaturhistorisch und rezeptionstheoretisch orientierte Arbeit bietet eine dia-
chronische Studie der deutschen symbolistischen Lyrik und schließt damit eine
Forschungslücke: Zanucchi gelingt es, den immer noch umstrittenen Begriff des
Symbolismus, den er historisch fundiert, dank einer klaren Periodisierung sowie
einer Definition der Poetik zu rehabilitieren und ihn von zeitgleichen literarischen
Strömungen und Kategorien wie der Neuromantik, der Décadence oder auch dem
Parnasse abzugrenzen.

Das erste Kapitel konzentriert sich auf den in fünf Phasen unterteilten französischen Symbolis-
mus. Auf eine nuancierte und umfassende Weise definiert Zanucchi hier die wesentlichen
ästhetischen, philosophischen, formalen, stilistischen und metrischen Grundzüge der Poetik des
französischen Symbolismus, wobei er auch die verschiedenen Konzeptionen des Symbols von
Baudelaire bis Mallarmé und De Régnier analysiert. Festgestellt wird unter anderem, dass das im
Akt des Lesens verankerte Symbolkonzept die moderne Rezeptionsästhetik vorwegnimmt. Da-
raus geht der erste Transfer hervor: die Filiation zwischen der deutschen Frühromantik (Novalis)
und dem französischen Symbolismus.
    Das zweite Kapitel widmet sich der Rezeption der französischen Symbolisten in der deutsch-
sprachigen, in den 1890er Jahren besonders aktiven Publizistik – dabei kommt Baudelaire, dem
Vorläufer der Symbolisten, ein besonderer Platz zu. Zanucchi gibt einen breiten Überblick über
die deutschen Literaturkritiker, die sich mit dem Symbolismus auseinandersetzen, die Zeitschrif-
ten und die Übersetzungen, die zur Verbreitung des französischen Symbolismus dienen. Ein
besonderes Augenmerk wird auf das übersetzerische Werk Stefan Georges, des wichtigsten
Vermittlers der französischen Lyrik im deutschsprachigen Bereich gelegt. Im Vergleich zu der
bisherigen Forschungstendenz, die sich auf die klassizistischen Merkmale von Georges Umdich-
tungen konzentrierte und mithin die symbolistischen Stilprinzipien seiner Übersetzungen unter-
schätzte, legt Zanucchi eine genauere Analyse vor. Diese verdeutlicht nicht nur die klassizisti-
schen, sondern auch die symbolistischen Züge von Georges Umdichtungen: Sie verfolgen „nicht
nur eine klassizistische Überformung, sondern auch eine Intensivierung des Symbolgehalts der
Fleurs du Mal [...]. Sie stehen im Zeichen einer Synthese von Parnasse und Symbolismus, welche
[...] auch Georges frühe Dichtungen prägt“ (S. 156).
    Im dritten Kapitel wird die Poetik des deutschen Symbolismus im Vergleich zur Poetik des
französischen Symbolismus und ausgehend von der ersten bedeutenden Rezeptions- und Trans-
formationsphase des französischen Symbolismus in der deutschsprachigen Lyrik des Fin de
siècle definiert. Als wichtiger Unterschied zwischen dem deutschen und französischen Sym-
bolismus kann zum Beispiel das Verhältnis zur Musik genannt werden: Während die französi-
schen Symbolisten die Musik als absolute Kunst zelebrieren und idealisieren, orientieren sich die
deutschen Symbolisten stärker an der Bildhauerei. Des Weiteren werden Georges Hymnen und




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Algabal im Hinblick auf deren Affinitäten und Differenzen zum französischen Symbolismus
eingehend untersucht. Für die Hymnen sei ein klassizistischer Symbolismus kennzeichnend, für
Algabal hingegen ein nihilistischer. Zanucchi versucht also, eine vollständige und systematische
Rekonstruktion der Symbolismus-Rezeption in Georges Werk vorzunehmen. Er weist nach, dass
der deutsche Lyriker die symbolistische Kunstutopie nicht nur bejaht, sondern auch kritisch
betrachtet und relativiert, da sie aus seiner Sicht auf einen unproduktiven Nihilismus hinaus-
läuft: Es „zeigt sich der dialektische Charakter von Georges Poetik, welche die Flucht ins
Artifizielle propagiert und zugleich als poetisch unfruchtbar entlarvt“ (S. 375).
   Das vierte Kapitel fokussiert die zweite bedeutende Rezeptionsphase des französischen
Symbolismus, die sich vor dem Hintergrund des lebensphilosophischen Diskurses vollzieht und
durch eine eindeutig transformative Tendenz gekennzeichnet ist. Der Verfasser geht dem Einfluss
von Nietzsches Lebensphilosophie und Alfred Schulers „psychophysischem Monismus“ (S. 383)
auf Hofmannsthals und Rilkes Lyrik und auf die Symbolismus-Konzeption um die Jahrhundert-
wende nach. Hofmannsthals Rezeption des französischen Symbolismus steht im Zeichen einer
Auseinandersetzung mit der epigonalen deutschen Tradition und zielt auf eine Erneuerung der
deutschen Dichtungstradition. Von besonderem Interesse ist auch die Transformation des Sym-
bolismus in Rilkes Sonette an Orpheus. Dank einer präzisen literaturhistorischen Kontextualisie-
rung der Sonette innerhalb des symbolistischen Duktus und einer konkreten Erforschung von
Rilkes rezeptionsästhetischem Dialog mit Mallarmé und Valéry legt Zanucchi eine ausgeglichene
Gedichtanalyse vor. Erläutert werden nicht nur Rilkes Affinitäten zum Symbolismus,4 sondern
auch die Modalitäten seiner Erneuerung des Symbolismus, die unter anderem auf Schulers
Monismus und seiner Konzeption des „offenen Lebens“ basiert. Die genaue Konturierung der
Bezüge zur symbolistischen Tradition5 lässt Rilkes ambivalente Beziehung zu diesem Erbe
erkennen: In den Sonetten steht der Symbolismus einer stark philosophischen und diskursiven
Dimension gegenüber, die an die postsymbolistische Bewegung (T. S. Eliot, Wallace Stevens und
Juan Ramón Jiménez) anklingt: „Gerade an dieser Dialektik von poetischer Affirmation und
skeptischer Relativierung lässt sich die postsymbolistische Signatur der Sonette an Orpheus
ablesen“ (S. 568). So wird es Zanucchi möglich, die beiden in der Forschung zu den Sonetten
verbreiteten Tendenzen – die philosophische und die symbolistische – miteinander zu verbin-
den.
   Im fünften Kapitel wird die bisher größtenteils vernachlässigte Rezeption und Transformati-
on des französischen Symbolismus in der Lyrik der Prä-Avantgarde erforscht. Noch deutlicher als
beim späten Rilke wird in der prä-avantgardistischen Lyrik die symbolistische Poetik transfor-
miert und problematisiert. Dies zeigt Zanucchi anhand zweier bisher kaum untersuchter Dichter,
Hanns Meinke6 und Walter Wenghöfer7, sowie ausgehend von Trakls Frühwerk Sammlung 1909.
Wenghöfers Rezeption des Symbolismus sei durch eine auf Baudelaire zurückgehende und
zugleich den Expressionismus antizipierende Entästhetisierung gekennzeichnet, Trakls rezepti-



4 Darauf hat schon Annette Gerok-Reiter hingewiesen, vgl. Wink und Wandlung. Komposition und
Poetik in Rilkes Sonette an Orpheus. Tübingen 1996.
5 Oft wird Rilkes Symbolismus-Rezeption postuliert, jedoch ohne dass deutliche Bezüge aufgear-
beitet werden. Daher ist Zanucchis Vergleich mit Valérys Sonett Orpheus besonders interessant.
6 Hanns Meinke, Ausgewählte Dichtungen. Zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen
von Helmut Röttger. Kastellaun 1977.
7 Sein Werk wurde in dieser Monographie erstmalig gedeutet. Walter Wenghöfer, Gedichte –
Briefe an Stefan George, Hanna Wolfskehl u. a. Hg. von Bruno Pieger. Amsterdam 2001.
                      




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onsästhetisches Verfahren hingegen durch die „kombinatorische Montage“ (S. 647) verschiede-
ner Prätexte. Bemerkenswert ist, dass die Tendenzen der prä-avantgardistischen Rezeption des
Symbolismus Züge des kommenden Expressionismus vorwegnehmen.
   Abschließend wird die Filiation zwischen Symbolismus und Expressionismus verdeutlicht.
Bei den Expressionisten wie Trakl, Ernst Toller oder auch Johannes R. Becher und dem österrei-
chischen Franz Theodor Csokor seien vor allem Einflüsse von Baudelaire und Rimbaud, der als
Vorbild des Bruchs mit der Tradition fungiert, zu finden. Die deutschen Expressionisten hätten
sich darüber hinaus auch für Neosymbolisten wie Alexandre Mercereau und Léon Deubel interes-
siert. Zanucchi zeichnet die Filiation des Symbolismus bis zum Dadaismus nach. Dieser habe mit
seiner „Emanzipation der Dichtung von der Sprache“ (S. 676) Affinitäten zu der für den Sym-
bolismus charakteristischen Autonomisierung der Sprache.



Zanucchis herausragende Studie bietet einen dichten und spannenden Gesamt-
überblick über den französischen und deutschen Symbolismus sowie über ihre
jeweiligen poetologischen Programme und Symbol-Verständnisse. Die Arbeit
stellt die verschiedenen Rezeptionsphasen und -diskurse, die bestimmten Rezep-
tionsmodi entsprechen, heraus und betont, dass die untersuchten Beziehungen
zwischen französischer und deutscher Literatur und Kultur maßgeblich zur Ent-
wicklung der modernen deutschen Lyrik beitragen. Daraus geht zum einen die
paneuropäische Qualität des Symbolismus und zum anderen „die europäische
Dimension der deutschen Lyrik des Fin de siècle“ (S. 685) hervor. Die Filiationen
zwischen literarischen Strömungen und Rezeptionstendenzen, die in der Arbeit
analysiert werden, führen also zu einer genealogischen Rekonstruktion der euro-
päischen modernen Lyrik. Mit dem verwendeten rezeptionsästhetischen Ansatz
einher gehen einleuchtende philologisch fundierte Betrachtungen, die zu detail-
lierten und überzeugenden Gedichtanalysen führen. Eine besondere Qualität
dieser Arbeit besteht auch darin, dass sie neben George, Hofmannsthal und Rilke
viele poetae minores, die in Vergessenheit geraten sind, berücksichtigt. Zur
bewundernswerten wissenschaftlichen Qualität trägt ferner die Materialfülle des
dokumentarischen Teils bei: Dazu gehören Texteinlagen, farbige Abbildungen,
eine reichhaltige Bibliographie sowie ein nützliches Namens- und Gedichtregis-
ter. Zanucchis Monographie ist nicht zuletzt wegen ihres klaren und verständli-
chen Schreibstils geeignet, ein unverzichtbares Nachschlagewerk der Kompara-
tistik und Germanistik zu werden.




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