Noether

23. Juni 2010
           „Mathematik reden“ – Emmy Noether (1882-1935)
                    (Andrea Albrecht)


Es sind vor allem zwei in geistes- und sozialwissenschaftlichen Kreisen kursierende Vorstellungen
über das Emmy Noether-Fellowship, die mich dazu motiviert haben, heute einleitend ein paar
Worte über die Person zu sagen, deren Namen das Stipendium und auch unser Workshop trägt: über
Amalia Emmy Noether. Die erste Vorstellung ist die, dass es sich um ein Stipendium für Frauen
handeln muss. Auch wenn kaum jemand erwarten würde, dass das Heisenberg-Stipendium oder das
Dilthey-Stipendium ein Stipendium nur für Männer sein könnte, ist ein Stipendium, das den Namen
einer Frau trägt und keinem Frauenförderplan zugehört, offenbar immer noch ungewöhnlich.
    Zweitens begegne ich immer wieder der Vorstellung, es handele sich beim Emmy-Noether-
Fellowship um ein Stipendium für Mathematikerinnen oder – weil die Mathematik in den
Geisteswissenschaften oftmals fälschlicherweise für eine Naturwissenschaft gehalten wird – um ein
Stipendium für Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler. Bis heute ist den wenigsten
Nicht-Mathematikern bekannt, warum denn Emmy Noether von Bedeutung ist. Und schon deshalb
war die Entscheidung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, sie als Namensgeberin für ihr
Nachwuchsförderprogramm zu wählen, eine gute Idee. Diese Benennung hat zumindest einen
erfreulichen Effekt: Denn ein Symptom dafür, dass man inzwischen zunehmend mehr mit ihrem
Namen verbindet, ist sicherlich, wie ich im zweiten Teil meiner Präsentation kurz skizzieren werde,
dass das Leben Emmy Noethers inzwischen sogar von der fiktionalen Literatur entdeckt worden ist.
    Doch zunächst möchte ich ein paar Momente aus ihrem faktischen und in vielerlei Hinsicht
außerordentlichen Leben herausgreifen und zeigen, was Emmy Noether zu einer so
bemerkenswerten Frau macht. Man kann sie, und das ist keine Übertreibung, als die wichtigste
Begründerin der modernen Mathematik bezeichnen, ebenso wichtig wie David Hilbert, ihr Mentor,
der gern als der größte Mathematiker des 20. Jahrhunderts gefeiert wird. Während Hilbert zwar
maßgeblich daran mitgewirkt hat, die Mathematik auf eine axiomatische Grundlage zu stellen,
folgten seine mathematischen Arbeiten einem noch sehr traditionellen Programm. Der
‚Rattenfänger von Göttingen‘ hatte allerdings einen Blick für mathematische Talente und holte
Emmy Noether, die in Erlangen 1907 als einzige Frau unter 47 Mathematikstudenten promoviert
und dann dort ohne Vergütung 8 Jahre lang als Mathematikerin gearbeitet hatte, 1915 nach
Göttingen. In den folgenden Jahren bemühte sich Hilbert gegen den konzertierten Widerstand seiner
vor allem historisch-philologischen Kollegen um die Durchsetzung von Emmy Noethers
Habilitation – zunächst vergeblich. In Preußen war zwar seit 1908 Frauen ein reguläres Studium
und eine anschließende Promotion möglich. Eine Habilitation aber, die den Weg für eine
wissenschaftliche Karriere frei gemacht hätte, war ausgeschlossen. Das an das Ministerium
gerichtete erste Gesuch um die „Zulassung von Fräulein Noether“ zur Habilitation lieferte denn
auch eine entsprechend ausführliche Begründung. Verwiesen wurde auf den durch den Krieg
erhöhten Bedarf an Mathematikern, auf Noethers weit über dem Durchschnitt liegende
mathematische Fähigkeiten und auf ihren untadeligen Charakter. Ich zitiere aus dem Gesuch:

   Es scheint uns bei Frl. Noether alles ausgeschlossen, was bei einzelnen Vertreterinnen
   wissenschaftlicher Tendenzen in unliebsamer Weise hervorgetreten ist. Sie ist in einem
   Gelehrtenhause aufgewachsen und wird eine eifrige und stille Arbeiterin auf dem Felde
   ihres Berufes sein.

Zudem nimmt das Schreiben den etwaigen Einwand vorweg, es möge sich um einen Präzedenzfall
für die allgemeine Zulassung von Frauen zur Habilitation handeln. Betont wird stattdessen der
Ausnahmecharakter des Anliegens:

   [...] es erscheint uns ganz unwahrscheinlich, daß wir in absehbarer Zeit eine weitere
   Frau zulassen möchten. Sind wir doch der Meinung, daß ein weiblicher Kopf nur ganz
   ausnahmsweise in der Mathematik schöpferisch tätig sein [...], geschweige denn
   Fräulein Noethers Leistungen aufweisen kann.

Das Gesuch wurde, wie einige weitere, abgelehnt beziehungsweise so lange verschleppt, bis sich
nach dem Krieg die politischen Verhältnisse geändert hatten. Es bedurfte nun allerdings noch der
Intervention Albert Einsteins, der die Göttinger zu einer Wiederholung des Zulassungsantrags
nötigte und somit dafür sorgte, dass Emmy Noether noch vor der offiziellen und allgemeinen
Erteilung des Habilitationsrechts für Frauen im Januar 1920 ihre venia legendi erhielt: Göttingens
erste „Habilitation einer Dame“. Es folgte die Ernennung zur außerordentlichen Professorin, ein
„Titel ohne Mittel“, der Noether nicht aus ihrer zunehmend prekären finanziellen Lage, der, wie
Max Weber schreibt, „'proletaroide[n]' Existenz“ des preußischen Privatdozenten, half. Erst 1923
erhielt sie einen mager vergüteten Lehrauftrag, der zudem jedes Jahr erneuert werden musste.
Dennoch gelang es ihr in den darauf folgenden Jahren, eine Reihe von bahnbrechenden
mathematischen Arbeiten zu verfassen – ich erspare uns die mathematischen Details. Ihre
Reputation lockte bald eine Vielzahl Mathematikerinnen und Mathematiker aus dem In- und
Ausland nach Göttingen und ließ die intellektuelle Atmosphäre entstehen, die bis heute nostalgisch
als das “goldene Zeitalter“ der Göttinger Mathematik erinnert wird. In den Worten Hermann Weyls,
eines befreundeten Mathematikers, war Emmy Noether „without doubt the strongest center of
mathematical activity“ in Göttingen, „considering both, the fertility of her scientific research
program and her influence upon a large circle of pupils.“
    Glaubt man den Memoiren und Erinnerungsberichten ihrer Schüler und Kollegen, so
bestand die Noether'sche Lehre aus einer Art fortgesetztem und engagiert geführtem
mathematischen Gespräch, das nicht nur in Vorlesungsräumen, sondern auch in Noethers
Mansardenwohnung, in der Badeanstalt und auf ausgedehnten Spaziergängen geführt wurde. Aus
dem Kontext dieser sog. „Noetherschule“ stammt auch der ihr zugeschriebene Ausdruck
„Mathematik reden“, der eine doppelte Bedeutung hat. Zum einen verweist er auf die Funktion, die
Emmy Noether der mündlichen, dialogischen Auseinandersetzung mit mathematischen Themen
einräumte; und zum anderen verweist er auf die Diskursivität ihrer mathematischen Praxis. „Sie
konnte nur in Begriffen, nicht in Formeln denken“, erinnert sich Bartels van der Waerden, und in
der Tat tritt in Noethers mathematischen Schriften eine neue begriffliche Sprache an die Stelle des,
wie sie selber sagte, „Formelgestrüpps“ und der formelverhafteten „Rechnerei“ – eine Sprache, die
bis heute definiert, was wir unter moderner Algebra verstehen.
    Für ihre überragenden mathematischen Leistungen erfuhr Emmy Noether durchaus
Anerkennung. So durfte sie im September 1932 als erste Frau auf dem Internationalen
Mathematikerkongress in Zürich ein Hauptreferat halten. Es ist allerdings auch bezeichnend,
welche Anerkennungsformen ihr vorenthalten blieben: So wurde sie nicht in die Akademie der
Wissenschaften aufgenommen, war trotz mannigfacher Begutachtungen kein offizielles
Redaktionsmitglied der Annalen der Mathematik und erhielt nie einen Ruf an eine deutsche
Universität. Die Gründe hierfür liegen auch in Emmy Noethers politischen Ansichten – sie war
zeitweilig Mitglied der USPD und galt ihren Zeitgenossen als Marxistin und Pazifistin. Ein
gravierender Grund aber war auch ihr Judentum. Wie Max Weber schon 1917 in seinem Vortrag
Wissenschaft als Beruf mit einem Zitat aus Dantes Commedia deutlich gemacht hatte, konnte man
den deutschen Juden nicht mehr guten Gewissens zum akademischen Studium raten, von Jüdinnen
ganz zu schweigen: „Wenn junge Gelehrte um Rat fragen kommen wegen Habilitation, so ist die
Verantwortung des Zuredens fast nicht zu tragen“, stellte Weber bitter fest. „Ist er ein Jude, so sagt
man ihm natürlich: lasciate ogni speranza.“ – Lasst alle Hoffnung fahren.
    1933 gehörte Emmy Noether dann auch zu den ersten sechs Göttinger Hochschullehrern, die
auf der Grundlage des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ mit sofortiger
Wirkung entlassen wurden – ironischerweise, denn Emmy Noether war nie verbeamtet worden.
Gegen das Unterrichtsverbot konnten auch 14 bei der Regierung eingereichte Fachgutachten nichts
ausrichten. Die Argumentation einer für Noether eintretenden studentischen Petition macht die
Schizophrenie der politischen Lage besonders deutlich, ich zitiere:

   So sehr wir die nationale Revolution in allen ihren Auswirkungen begrüßen, so sehr
   bedauern wir auch die Beurlaubung von Frl. Professor Noether. [...] Frl. Noether hat
   eine mathematische Schule begründet, aus der die tüchtigsten der jüngeren
   Mathematiker hervorgegangen sind, die jetzt zum Teil Dozenten, zum Teil Ordinarien
   an deutschen Universitäten sind. [...] Es ist kein Zufall, daß ihre Schüler sämtlich arisch
   sind, es liegt begründet in ihrer Wesensauffassung der Mathematik, die dem arischen
   Denken besonders entspricht.

Um den apologetischen, aber auch hilflosen Charakter dieser Aussagen einschätzen zu können,
muss man wissen, dass zeitgleich Ludwig Bieberbach und andere nationalsozialistische
Mathematiker dabei waren, das abstrakte mathematische Denken, für das Emmy Noether wie keine
andere stand, als jüdische Mathematik zu denunzieren und davon das intuitive, anschauliche
Denken als „deutsche Mathematik“ abzuheben.
    Noether selbst reagierte relativ gelassen auf die politische Entwicklung; sie sorgte sich, wie
Briefe aus dieser Zeit deutlich machen, vor allem um ihren Bruder, um Kollegen und Schüler.
Allerdings nahm sie noch im gleichen Jahr eine Einladung an das Bryn Mawr-College in
Pennsylvania an, ein Frauen-College, für das Emmy Noether heillos überqualifiziert war. Hier am
Bryn Mawr-College gab es, das sei nur am Rande bemerkt, das erste Emmy Noether-Fellowship
dieses Namens, eine 1934 eingerichtete Förderung für junge Frauen, die bei Emmy Noether
promovieren wollten – hier also treffen die eingangs zitierten Vorstellungen zu, es war
ausschließlich ein Stipendium für Mathematikerinnen.
    1934 reiste Noether noch einmal kurz nach Göttingen, um ihren Bruder zu sehen. Doch die
bedrückenden Erfahrungen im braunen Göttingen katalysierten vor allem eines: die bis dahin
aufgeschobene Entscheidung für die endgültige Auswanderung in die Vereinigten Staaten. Hier
bemühten sich Freunde und Kollegen weiterhin um ihre Festanstellung, doch es blieb bei
Lehraufträgen und befristeten Verträgen, so dass man sich nicht wundern muss, dass Emmy
Noether nicht mehr zu ihrer wissenschaftlichen Produktivität zurückfand. In einem der vielen zu
ihren Gunsten verfassten Gutachten schreibt der Mathematiker Lefschetz Ende 1934: „She is the
outstanding refugee German mathematician brought to theses shores, and if nothing is done for her,
it will be a true scandel.“ Für die Vermeidung dieses Skandals war es jedoch schon bald zu spät:
Am 14. April 1935 starb Emmy Noether überraschend an den Folgen einer Gebärmutteroperation.
Die zahlreichen, teils sogar in Deutschland erscheinenden Nachrufe von Einstein, Weyl, von der
Waerden und anderen spiegeln den Schock und die Trauer über den Verlust. Ich zitiere aus dem
Nachruf des russischen Mathematikers Pavel Alexandroff: (KITSCH)

   With the death of Emmy Noether I lost one of the most captivating human beings I have
   ever known. Her extraordinary kindness of heart, alien to any affectation or insincerity;
   her cheerfulness and simplicity; her ability to ignore everything that was unimportant in
   life – created around her an atmosphere of warmth, peace and good will which could
   never be forgotten by those who associated with her. But her kindness and gentleness
   never made her weak or unable to resist evil. She had her opinions and was able to
   advance them with great force and persistence. [...] She loved people, science, life, with
   all the warmth, all the joy, all the selflessness and all the tenderness of which a deeply
   feeling heart – and a woman's heart – was capable.

Alexandroffs Darstellung gehört – und auch deswegen habe ich sie zitiert – zu den wenigen Texten,
die ohne einen ansonsten wieder und wieder perpetuierten Topos der Noether-Literatur
auskommen: Alexandroff lässt Emmy Noethers Aussehen, ihre vermeintliche Hässlichkeit
unerwähnt. Diese Hässlichkeit aber bildet – angefangen bei Hermann Weyls Grabrede über perse
Nachrufe,  Erinnerungen   und   biographische  Skizzen   hinweg   bis  zu  aktuellen
wissenschaftshistorischen Arbeiten zu Emmy Noether – eine ubiquitäre und enervierende
Konstante. Eine besonders enervierende Ausgestaltung hat der Topos erst letztlich in einem –
horribile dictu – literarischen Text zu Emmy Noether gefunden, und zwar in Michael Köhlmeiers
üppigem Großroman Abendland, der es immerhin 2007 auf die Short-List des Deutschen
Buchpreises geschafft hat.
“Zweifellos war“ Emmy Noether „keine schöne Frau”, heißt es bei Köhlmeier,
   klein, kurzatmig, halslos, mit einem weichen, jeder Bewegung des Körpers
   hinterherwalkenden Bauch, der über den Nabel kippte, wenn sie saß. Außerdem trug sie
   unvorteilhaftes Gewand, worin sie aussah, als lasse sie sich gehen [...]. Sie hatte einen
   Watschelgang, der sie gewollt tolpatschig erscheinen ließ [...], und sie trug eine Brille,
   deren Gläser so stark waren wie die Linsen auf Taschenlampen. Sie rasierte sich zweimal
   in der Woche und hielt ihre Lehrveranstaltungen ungeniert mit Stoppelbart ab. Die
   Studenten nannten sie ’den Noether’.
Man könnte mutmaßen, dass Köhlmeiers überzogene Darstellung in der bewussten Absicht erfolgte,
den chauvinistischen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts als solchen vorzuführen. Schließlich
standen wissenschaftlich ambitionierte Frauen wie Emmy Noether tatsächlich im Verdacht einer
zwitterhaften Geschlechtlichkeit: “Hat ein Weib mathematisches Talent, so ist es ebenso, als ob sie
einen Bart hätte”, stellte beispielsweise Paul J. Möbius in seiner Schrift Ueber die Anlage zur
Mathematik fest. Allerdings fehlen im Roman Signale, die Zweifel an der Relevanz der angelegten
Beschreibungskriterien erkennen ließen. Zudem geht Köhlmeier noch einen entscheidenden Schritt
über die zeitgenössischen Stellungnahmen hinaus, indem er Emmy Noether die chauvinistische
Perspektive selbst bestätigen lässt. Die literarischen Möglichkeiten zur einfühlenden Introspektion
nutzend, imaginiert der Erzähler zu diesem Zweck Emmy Noethers Gefühlswelt und lässt sie in
einer schwachen Minute ihrem fiktiven Doktoranden Candoris gegenüber gestehen, dass sie sich
ihrer Hässlichkeit selbst “drückend bewußt” sei und schwer unter diesem seit Mädchenjahren
empfundenen “Weh” leide. Es sind also nicht Noethers mathematische Ambitionen und Leistungen,
nicht ihr Bemühen um das Fortkommen ihrer Schüler oder ihre Sorge um die von den Nazis
verfolgten Verwandten und Freunde, was Köhlmeier der Leserin und dem Leser als Schlüssel für
die Annäherung an den Menschen Noether offeriert. Vielmehr entdeckt er für uns hinter ihrer
vermeintlich unansehnlichen und unweiblichen Fassade die empfindsame Seele einer zart fühlenden
und leicht verletztbaren Frau, die – wie könnte es anders sein – eines männlichen Schutzes bedarf:
Jacob Candoris, der Protagonist des Romans, wird sich im Verlauf der Erzählung mehrfach für
Emmy Noether schlagen und sogar (fast) einen Mord begehen.
    Da ich mit diesem ärgerlichen Textbeispiel nicht schließen mag, sei noch auf eine
gelungenere literarische Auseinandersetzung mit Emmy Noether hingewiesen, auf Dietmar Daths
Porträt “Das Märchen vom völlig symmetrischen Schmetterling” aus dem Jahr 2005. Hierbei
handelt es sich um einen kurzen, mit phantastischen Elementen angereicherten Text über Emmy
Noether, der mit einer klassischen Märchenformel beginnt:
   Es war einmal ein Mädchen, das alles wissen wollte, was man durch Fragen und
   Nachdenken überhaupt rauskriegen kann. Das Kind hatte schlechte Augen, aber einen
   wachen Kopf. Während die anderen Mädchen sich aufs Häkeln und Stopfen warfen,
   wollte Emmy, von der wir erzählen, bald wissen, [...] was die Zahlen für Sachen sind.
In den sich anschließenden Partien behält der Erzähler den kinderbuchartigen Ton bei, obgleich das
Erzählte bald seinen märchenhaften Charakter verliert. Koloriert durch Drachen, Könige, Zauberer
und Hexen resümiert die Erzählung wesentliche Elemente aus Emmy Noethers Leben, angefangen
von der frühen Förderung durch ihren Vater über ihr Studium in Erlangen und ihre schwierige,
wenngleich vom “Prospero” Hilbert unterstützte Karriere auf der “Insel” Göttingen, bis hin zu ihrer
Zwangsexilierung und dem plötzlichen Tod in den Vereinigten Staaten. Unterbrochen werden diese
biographischen Sequenzen durch das dreimalige Zusammentreffen mit einem sprechenden
Schmetterling. Dath stilisiert ihn zu einem Boten aus einer anderen, den normalen Menschen
verschlossenen Welt höherer Symmetriestrukturen, in die einzig Emmy Noether Einblick gewährt
wird. Beim zweiten Zusammentreffen ist sie bereits eine erfolgreiche Mathematikerin, die zwar,
wie der Schmetterling sich mokiert, von ihren Kollegen immer noch nicht angemessen anerkannt
und wegen ihres Geschlechts verspottet wird, die aber zugleich mehr über algebraische Symmetrien
und physikalische Erhaltungssätze weiß als der Schmetterling selbst. “Das hätte so weiter gehen
können”, bemerkt der Erzähler lakonisch. “Statt dessen” aber
   kamen die Nationalsozialisten an die Macht. [...] Um sich zu retten, musste sie das Land
   verlassen, zu dessen klügsten Bewohnern sie gehört hatte. [...] Hoffnungen, noch einmal
   in Muße arbeiten zu können, zerschlugen sich. [...] Vergeblich versuchten die Ärzte sie
   zu retten.
Den angekündigten dritten und letzten Besuch erlebt Emmy Noether daher nicht mehr. Das
Selbstgespräch des nunmehr allein gebliebenen Schmetterlings überführt den Text in ein schlichtes
memento mori:
   [...] diesmal bin ich zu spät. Was passiert mit allem, was man wissen kann – sie hat
   genug gewußt, um es sich vorstellen zu können. [...] Wohin wandert die Erinnerung,
   wenn sich niemand erinnert?
Und nach einem kurzen Absatz endet der Text mit der Stimme des Erzählers, und zwar mit einer
trotzigen, den Märchenton in entstellter Form wieder aufnehmenden Schlussvolte:
   Und wenn sie auch gestorben ist: Auf der Seite der Unschuldigen lebt Emmy Noether.


Literaturhinweise

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